Bericht aus BAYERN

Eine kritische Bestandsaufnahme

Diabetesbetreuung durch Diabetologen in Deutschland – GKV vs. PKV
 

Die Diabetologie ist durch einen stetigen Wandel und durch einen revolutionierenden Trend zur Technisierung und Digitalisierung geprägt. Seitens der GKV und PKV wird die Therapie des Diabetes mellitus allerdings unterschiedlich wahrgenommen, unterstützt und honoriert. Was es im Einzelnen damit auf sich hat und welche Konsequenzen das für die Versorgung von Menschen mit Diabetes konkret nach sich zieht
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Dr. med. Christoph Neumann, Vorstand bndb, Mitglied BVND


Ambulante Diabetesbetreuung
In Deutschland ist ein jährlicher Anstieg der Prävalenz und Inzidenz des Diabetes mellitus zu verzeichnen. Derzeit wird geschätzt, dass insgesamt 9,2% der deutschen Bevölkerung einen Diabetes haben. Jährlich wird bei ca. 560.000 GKV-versicherten Erwachsenen ein Diabetes neu diagnostiziert (d. h. ca. 1,2 %). Die Politik hat hierauf mit dem Beschluss einer Nationalen Diabetesstrategie und der Einrichtung der Nationalen Diabetes-Surveillance beim RKI reagiert. Auch die Selbstverwaltung, konkret der G-BA, schafft im Zuge der Aktualisierung seiner DMP-Richtlinien für Therapeuten die Möglichkeit, bei Bedarf und entsprechend der individuellen Therapieziele die ärztlichen Verordnungs- und Behandlungsmaßnahmen zu modifizieren und neue digitale Technologien zur Anwendung zu bringen. Insgesamt ist die Diabetologie eine der Disziplinen, die durch einen stetigen Wandel und in den letzten Jahren durch einen revolutionierenden Trend zur Technisierung und Digitalisierung geprägt sind.

Zu Beginn der 1990er Jahre eröffneten die ersten Diabetesspezialisten in Deutschland ambulante Zentren zur Behandlung des Diabetes mellitus. In den folgenden Jahren nahm deren Anzahl bundesweit zu, parallel dazu sank die Zahl der stationären Einrichtungen zur Behandlung des Diabetes mellitus. Die stationären Einrichtungen wurden unökonomisch und bleiben in erster Linie akut-medizinischen Komplikation vorbehalten. Die kontinuierlich zunehmende Expertise der Diabetesambulanzen ermöglicht eine individuelle, patientenorientierte und bestmögliche Behandlung im „real life setting“. In strukturierten Einzel- und Gruppenschulungen werden alle wesentlichen Inhalte vermittelt: Diagnostik, Pathophysiologie, moderne Messmöglichkeiten der Glukose in Blut und Gewebe, Basistherapie und medikamentöse Therapie sowie Diagnostik, Therapie und Prävention von Folgeerkrankungen. Die erworbenen Kenntnisse können sofort im Alltag umgesetzt und auf ihre Validität überprüft werden. Dabei ist entscheidend, dass der Therapeut nach ausführlicher Anamnese und Erfassung der Gesamtsituation des Patienten, verschiedene therapeutische Optionen anbietet und Patient und Arzt entscheiden, welcher Weg gemeinsam gegangen wird. Regelmäßige Therapieanpassungen werden bedarfsgerecht vorgenommen.

Disease-Management-Programme
Bei den sogenannten Disease-Management-Programmen (DMP) im Bereich der GKV handelt es sich um strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen basierend auf den Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin. Ziel ist es, bestehende Versorgungsdefizite abzubauen und Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern. Dies soll nicht nur durch Koordination eines Praxisteams, durch Förderung der Kooperation aller Beteiligten und durch differenzierte Therapieplanung unter Einbeziehung der Erkrankten erreicht werden, sondern auch durch leitliniengerechte nicht-medikamentöse und medikamentöse Behandlung sowie durch Stärkung der Selbstmanagement-Fähigkeiten mittels strukturierter Schulungen. Die erfassten Daten werden regelmäßig elektronisch dokumentiert, evaluiert und in Qualitätsberichten publiziert. Die Anforderungen werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Richtlinie erlassen und regional in Verträgen zwischen gesetzlichen Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen umgesetzt. Bereits im Juni 2002 wurde das DMP- Diabetes mellitus Typ 2 implementiert.

Aus Sicht des ambulant tätigen Diabetologen stellt das DMP-Diabetes insgesamt eine Erfolgsgeschichte dar. Die klaren Strukturen werden von den Patienten nicht nur angenommen, sondern als hilfreich und zielführend empfunden. Die Dokumentation der Ergebnisse im Diabetespass der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) erlauben eine Übersicht über Qualität und Verlauf der Behandlung und die durchgeführten Untersuchungen.

Vergleichbare Strukturen fehlen im Bereich der PKV. Dies führt in der Folge zu einer qualitativ deutlich schlechteren Behandlung, da klare Vorgaben fehlen und die Patienten den Behandler deutlich seltener und unregelmäßiger aufsuchen.

Diabetologie im kontinuierlichen Wandel
Die Diabetologie hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend geändert. Zum einen führt die Möglichkeit der kontinuierlichen Glukosemessung im Gewebe zu einer Echtzeitdarstellung (real time continous glucose monitoring = rtCGM) der Glukosefluktuationen. Diese Entwicklung kann ohne Übertreibung als Meilenstein bezeichnet werden. Nachdem man viele Jahrzehnte nur über einen Stich in Finger oder Ohrläppchen Auskunft über die aktuelle Glukose im Blut erhalten konnte, besteht nun die Möglichkeit, die wirklichen Fluktuationen der Glukose darstellen zu können. Vom Punkt zur Kurve, von willkürlichen Einzelmessungen zum Abbild der Realität. Patienten werden in die Lage versetzt, die unmittelbaren und verzögerten Auswirkungen von Nahrung, Bewegung, Stress und anderen Faktoren auf die Glukose nachvollziehen zu können. Dies ermöglicht bei entsprechend intensiver Beratung durch den Diabetologen eine patientenindividuelle und bestmögliche Therapieanpassung.

Auf der anderen Seite besteht aufgrund neuer medikamentöser Therapieoptionen seit einigen Jahren die Möglichkeit, bei entsprechender Risikokonstellation nicht nur die Glukose zu verbessern und damit mikrovaskuläre Komplikationen zu verringern (Augen-, Nieren- und Nervenschäden), sondern auch das Leben der Patienten zu verlängern (Verringerung von Herzinfarkt, Herzschwäche, Nierenversagen und Tod). Hier sind die Gliflozine und GLP 1-Analoga zu nennen, die auch Eingang in die aktualisierte nationale Versorgungsleitlinie zum Diabetes mellitus Typ 2 (2. Auflage, Version 1, AWMF-Register-Nr. nvl-001, 2021) Eingang gefunden haben.

Schließlich drängen immer neue Produkte auf den Markt, die die rtCGM mit der Insulinpumpentherapie als sogenannte Hybrid closed loop Systeme verbinden.

Zusammenfassend nimmt die Komplexität von Diagnostik und Therapie im Bereich des Diabetes mellitus stetig zu und erfordert neben kontinuierlicher Weiterbildung ein hochspezialisiertes Diabetesteam (Arzt und Diabetesberatung), um Patienten bestmöglich auf höchstem Niveau und nach neuesten Therapiestandards behandeln zu können. Die Qualifikation des beratenden Personals ist hoch, die Gehaltsforderungen ebenso. Letztendlich liegt aber die Entscheidung über die Art von Diagnostik, Therapie und Therapieanpassung in der Hand und Verantwortung des Diabetologen. Nur bei einer adäquaten Honorierung ist die Aufrechterhaltung dieses hohen Standards möglich.

Honorierung GKV
In den Bundesländern bestehen sehr unterschiedliche Honorierungen der diabetologischen Expertise. Dies ist erklärbar durch die föderalen Strukturen und abhängig von der jeweiligen Zusammenarbeit von Diabetologen, KV und GKV. Neben der Honorierung über EBM und DMP werden auf regionaler Ebene in intensiven Verhandlungen Möglichkeiten der Bezahlung besonderer Beratungsleistungen diskutiert und vereinbart (z. B. Diabetesvereinbarung in Bayern). Als Vorstandsmitglied im Berufsverband der niedergelassenen Diabetologen in Bayern (bndb) seit 2009 konnte ich im Sinne einer bestmöglichen Patientenversorgung zur Einführung neuer spezifischer Leistungen beitragen.

Die oben dargelegte Einführung des rtCGM stellte nicht nur Patienten vor große Herausforderungen. So legten auch die Therapeuten eine enorme Lernkurve hin, um die Fülle der erhaltenen Daten erfassen und in Therapieempfehlungen umsetzen zu können. Die alleinige kontinuierliche Glukosemessung führte mitnichten automatisch zu verbesserten Glukosewerten. Wiederholte, individuelle Einzelanpassungen waren erforderlich, um die Möglichkeiten des neuen Messsystems nutzen zu können. Diese immer mehr Raum einnehmenden Einzelberatungen wurden bis dato nicht honoriert.

Telemedizinprojekt
In einem Zeitraum von sechs Monaten wurde vom bndb mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege und in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) ein telemedizinisches Versorgungsforschungsprojekt in Bayern durchgeführt. Untersucht wurde, inwieweit durch telemedizinische, intensive Beratung unter Einsatz eines Systems zur kontinuierlichen Glukosemessung im Gewebe (FreeStyle Libre, Abbott GmbH) bei Patienten mit Typ 1- und Typ 2-Diabetes unter intensivierter Insulintherapie oder Insulinpumpentherapie eine Verbesserung der Glukoseeinstellung erzielt werden kann. Darüber hinaus wurden die Umsetzbarkeit im Praxis-Alltag, Aufwand und Kosten bewertet.

In das Projekt eingeschlossen wurden 93 Patienten mit unzureichender Glukosekontrolle (HbAIC > 7,5%). Es zeigte sich eine signifikante Verbesserung der Glukoseeinstellung ohne Gewichtszunahme sowie ein signifikanter Anstieg der Therapiezufriedenheit. Von Patienten und Ärzten wurde die telemedizinische Beratung positiv bewertet. Darüber hinaus war sie kosteneffizient. Nach Publikation der Ergebnisse (Versorgungsoptimierung von Menschen mit Diabetes mellitus mit iscCGM unter Einsatz von Telemedizin, C. Neumann et al, Diabetes, Stoffwechsel und Herz, Band 30, 3/2021) konnte im Juli 2021 mit den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) in Bayern eine entsprechende Leistung in Form eines extrabudgetär vergüteten telemedizinischen Gesundheitscoachings erstmalig in Deutschland auf den Weg gebracht werden. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von Versorgungsforschungsprojekten, die neue Beratungsmöglichkeiten mit innovativen Produkten im Sinne einer Verbesserung der Patientenbetreuung untersuchen. Gerade in Zeiten der Pandemie zeigte dieses Projekt, dass qualitativ hochwertige Betreuung durch Diabetologen auch telemedizinisch erfolgreich ist. Die Honorierung der diabetologischen Expertise führt zu einer optimalen Therapiemöglichkeit nach neuesten Standards.

Honorierung PKV
Im Bereich der PKV sieht die Situation deprimierend aus. Die Volkskrankheit Nummer 1 wird hier praktisch nicht wahrgenommen. So existieren weder Ziffern für die exzellenten Beratungsleistungen der Diabetologen noch dem GKV-System vergleichbare Leistungen bezüglich spezifischer Therapieoptionen (z. B. Ersteinstellung auf die intensivierte Insulintherapie, besondere Honorierung für die Beratung in der Schwangerschaft, Behandlung des diabetischen Fußsyndroms, telemedizinische Beratung). Auch die seit Jahrzenten erfolgreich durchgeführten, strukturierten Diabetesschulungen sind unterbezahlt.

Während sich die GKV offen für neue Leistungen bei entsprechendem Qualitätsnachweis zeigen und in die Praxis umsetzen, tut sich auf dem privaten Sektor nichts. Die neue GOÄ erwarten wir seit vielen Jahren vergebens. Auch ein Besuch des bndb-Vorstands bei der PKV in Köln führte bedauerlicherweise zu keiner Veränderung. Die Ergebnisse des telemedizinischen Projektes wurden der PKV zugesandt.

Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das GKV-System hat sich mit den föderalen Strukturen im Sinne einer modernen und bestmöglichen Betreuung von Patienten mit Diabetes mellitus bewährt und gut aufgestellt. Das PKV-System bietet weder klare Strukturen wie die Disease Management Programme, noch wird die Expertise von Diabetologen überhaupt zur Kenntnis genommen. Das Überleben einer Diabetespraxis mit alleiniger Betreuung von Privatpatienten ist unmöglich! So werden die PKV-Versicherten seit vielen Jahren mangelversorgt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Anregungen seitens der PKV, Patienten mit Diabetes von Hausärzten in spezialisierte Diabetes-Ambulanzen zu überweisen, fehlen. Hier muss dringend Abhilfe geschaffen werden, um auch privat Versicherten Zugang zu einer optimalen Diabetestherapie zu ermöglichen. Eine adäquate Honorierung der Diabetologen sollte so rasch wie möglich implementiert werden.


Dr. med. Christoph Neumann
Internist, Diabetologe
Diabeteszentrum Neumann+Zschau München
Vorstand bndb
Mitglied BVND