Position des BVND zur Digitalisierung
Die Zukunft der Medizin – und damit auch die aller Ärzte aus Praxen und Krankenhäusern, die unmittelbar in der Patientenversorgung aktiv sind - wird wesentlich von der Digitalisierung bestimmt sein. Damit sind viele Chancen, aber auch Gefahren verbunden. Neue Technologien verändern die Diagnostik und die Therapie. Allerdings darf dies nicht das Arzt-Patientenverhältnis beeinträchtigen oder gar zerstören. Die Versorgung muss in Zukunft alle erreichen, auch die, die sich nicht mit der neuen Technik zurechtfinden können oder wollen, weil sie zu alt oder zu krank sind oder weil sie für sich entschieden haben, weiterhin analog zu leben - ohne Smartphone und Apps.
Die Zukunft der patientenorientierten praktischen Diabetologie ist die Personalisierte Medizin. Digitalisierung ist der Megatrend. Big Data und E-Health werden die Medizin gravierend verändern. Der Patient wird durch mobile Datenspeicher (z.B. „Wearables“ , Smartphone, Tablets, Watch) zum Sammler aller für sein Gesundheit relevanten Daten. Die Interpretation der Datenflut entspricht der ursprünglichen Aufgabe von Evidence-Based-Medicine. Durch eine „intelligente“ Datenanalyse werden die individuellen Fakten des einzelnen Patienten mit den Daten einer großen Anzahl von Patienten abgeglichen werden. Dies ermöglicht es, online statistische Aussagen zu der Bedeutung der individuellen (Daten-)Situation machen zu können. Personalisierte Medizin ermöglicht somit Individualität anstelle von Durchschnitt und bietet dadurch die Option von angepassten Behandlungsstrategien. Die in Datenbanken gespeicherte wissenschaftliche Literatur wird zum konkreten Fall in Bezug gebracht und steht dem Arzt unmittelbar zur Verfügung. Dies kann zu einer höheren Sicherheit bei Diagnostik und Therapie führen.
Im Honorarsystem muss der Entwicklung Rechnung getragen werden, dass als Folge der Digitalisierung die Personalisierte Medizin Realität wird. In Zukunft wird der Diabetologe mit Hilfe von Big Data erheblich bei Diagnose und Therapieentscheidung entlastet werden. Hierbei besteht die Gefahr, dass insbesondere von den Kostenträgern versucht wird, den Anteil der sprechenden Medizin, die jedoch wichtiger wie zu vor werden wird, zu reduzieren bzw. zu eleminieren.
Nicht alle Lebensumstände spiegeln sich in den gesammelten Daten wider; es droht eine Vereinfachung und Verflachung der Lebenswirklichkeiten. Hier ist und bleibt die individuelle Interpretation der Ergebnisse durch einen erfahrenen Mediziner unentbehrlich. Die Big-Data-Analyse löstdarf den Arzt nicht ablösen, wird aber die Arbeit ergänzen und verändern.
Der Patient wird mit wachsender Selbstverständlichkeit erwarten, dass Produkte, Services und Empfehlungen individuell auf ihn abgestimmt sind. Er entwickelt sich von einem passiven Patienten zum aktiven Gesundheitskunden mit ausgeprägten eigenen Vorstellungen und Wünschen.
Gleichzeitig werden viele Patienten überfordert sein von der Masse und Komplexität der Angebote, so dass die Begleitung durch Ärzte an Bedeutung gewinnt. Die rasanten Fortschritte in der Medizin werden von vielen nicht nur als positiv wahrgenommen. Bisher gibt es zu solchen Entwicklungen keine ausreichende Diskussion. Der Fortschritt muss als eine große Chance für die Patienten, aber auch für das Gesundheitswesen, begriffen werden und nicht nur als reiner Kostentreiber oder Dokumentations- und Fortbildungs-Overkill.
Die Diabetesbehandlung lebt von der Kommunikation im Sinne der sprechende Medizin, die vorrangige Domäne des Diabetologen bleiben wird. Sie stellt hohe Anforderungen an die Erfahrung und die Ausbildung des Arztes, des gesamten Diabetes-Teams und die technische Ausstattung der Praxis oder Klinik. Der Arzt wird im medizinischen „Informationsdschungel“ zum Coach seines Patienten. Die Arzt-Patienten-Interaktion wandelt sich von der Aufklärung zur Erklärung. Seine Haupttätigkeit wird die Interpretation von Patientendaten sein und das erklärende Coaching gegenüber seinem Patienten. Dies muss sich sowohl in der ärztlichen Fortbildung als auch in der Gebührenordnung für Ärzte widerspiegeln
Die zunehmende Digitalisierung und Technologisierung im Gesundheitsbereich darf nicht dazu führen, dass eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung zerstört wird. Die Chancen einer zunehmenden Nutzung von elektronischen Medien/Geräten durch die Patienten müssen geeignet begleitet werden. Die medizinische Betreuung der zukünftigen (mehrheitlich geriatrischen) Diabetespatienten wird Unterstützung von digitalen Medien (Telemedizin) geleistet. Es gilt dafür zu sorgen, dass das medizinische Fachpersonal für die komplexe Betreuung multimorbider Menschen im Digitalzeitalter ausgebildet wird.
Von dieser Entwicklung sind allerdings ein Teil der Patienten ausgeschlossen: z.B. geriatrische Patienten, Menschen aus sozialschwachen Strukturen oder mit Migrationshintergrund. Gerade solche Patienten bedürfen weiterhin einer besonderen Zuwendung durch Ärzte und geeignet ausgebildetes medizinisches Personal, damit die Fortschritte in der Medizin nicht an ihnen vorbeigehen.
Global operierende IT-Unternehmen wie Google, Apple, IBM und andere arbeiten fieberhaft an neuen Kooperationen mit Pharma- und Diagnostikfirmen. Dadurch lassen sich Patientendaten und Ergebnisse wissenschaftlicher Studien für die Betreuung von Patienten individualisiert und effizient nutzen - dies verspricht Milliardengewinne! Daten, deren Analyse und ein effektives Daten-Management werden zu einer der größten Produktivkräfte im Gesundheitsmarkt.
Eine erhebliche Herausforderung stellt die Heterogenität von Datentypen und -qualität und vor allem Standards bei der Datenerhebung, -analyse, und -validierung sowie geeigneten Informationsstrukturen dar. Den sinnvollen Einsatz von digitalisierten Innovationen im Gesundheitswesen blockiert die fehlende Kompatibilität (= Blockierung von Datenaustausch, mangelnde Konnektivität) der Computerprogramme. Eine Standardisierung der Schnittstellen ist (Interoperabilität) deshalb dringend notwendig. Erst die Etablierung von Standards durch die medizinischen/diabetologischen Fachgesellschaften und entsprechende Investitionen in die notwendige Infrastruktur ermöglichen die Datenvernetzung auf allen Ebenen und in allen Regionen. Gefragt ist hier nicht nur die Politik, sondern auch die Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenkassen, Apothekern und Krankenhäusern. Diese müssen sich von einer Innovationsbremse zu einem Innovationsbeschleuniger entwickeln.
Mittlerweile gibt es hunderttausende unzählige Gesundheits- und Medizin-Apps – und täglich kommen weitere hinzu. Keiner kann alle Apps kennen und beurteilen, dabei werden in Zukunft immer mehr Patienten ihre Ärzte mit solchen Apps konfrontieren. Viele der Diabetes-Apps verarbeiten und präsentieren Patientendaten in mehr oder weniger geeigneter Form. Kritisch und potentiell gefährlich wird es, wenn eine App Empfehlungen für eine Therapieänderung gibt und damit in die ärztliche Therapiehoheit eingreift. Auch aus rechtlichen Aspekten (= Haftungsgründen) müssen alle therapieempfehlenden Apps eine Zulassung als Medizinprodukt haben. Es besteht Bedarf für eine Clearingstelle, die für das Diabetesteam Apps bewertet und im Einzelfall auch evaluiert. Schulung und Motivation zu Lebensstilveränderungen - Bereiche, die schon immer wesentliche Bestandteile der angewandten Diabetologie waren - lassen sich mit Hilfe von digitalen Medien (Apps, Onlineschulungen) effektiv durchführen und unterstützen.
Auch die Sozialen Medien sind inzwischen Alltags-Bestandteil vieler Patienten. Es gibt aber Bedarf an einem „Lotsen“, denn angesichts der Vielfalt von Informationen, (die oft nicht immer valide sind,) ist Hilfestellung nötig bei der Suche nach seriösen und wissenschaftlich belegten medizinischen Ratschlägen und deren Interpretation.
Die patientenorientierte Diabetologie muss eine passende Position in diesen Medien etablieren - simple Ignoranz führt hierbei nicht weiter. Die ungenügende Repräsentanz der patientenorientierten Diabetologie im Internet ist ein Schwachpunkt bei der Kommunikation mit den Patienten.
Diabetesbehandlung ist (auch) eine Datenmanagement-Therapie, und ohne eine geeignete Handhabung und Analyse all dieser Daten ist auf Dauer keine gute Diabetesbetreuung möglich. Die „Digitalisierung der Welt“ findet hier eine ganz konkrete und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Rolle in der Diabetestherapie, insbesondere dann, wenn sie von den Betroffenen selber eingesetzt wird (s.o.). In Anbetracht der Komplexität moderner Insulinpumpen, CGM-Systeme und neuer Entwicklungen wie der künstlichen Bauchspeicheldrüse (Artificial Pancreas), sind neue Konzepte für die ärztliche Fortbildung, das Teamtraining und die Patientenschulung notwendig.
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